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mercredi, 04 février 2009

Die Insel der lesenden ArbeiterInnen

Epiphanie

 

 

PHOTO Lotte-500x334.jpgphot. Sara

 

Die Insel der lesenden ArbeiterInnen

 

Havanna, August 2006- es ist drückend heiß, vor der legendären Eisdiele „Coppelia“ stehen Menschentrauben in Gruppen, die unter den wenigen Bäumen den Schatten suchen und warten zum Teil mehrere Stunden bis sie von den Ordnern durchgelassen werden und einen Platz zugewiesen bekommen. Von den an den Informationstafeln an den Eingängen angeschlagenen Eissorten stehen dann zumeist nur noch ein bis zwei zur Auswahl. Nur vor den für Touristen abgetrennten Abteilungen des Eistempels, in denen die Kugeln in harter Währung, dem sog. konvertiblen kubanischen Peso, verkauft werden, stehen keine Schlangen, das Angebot ist breiter, die Sorten ausgefallener. Nicht selten gerät das Gespräch in den Warteschlangen angesichts dieser Abteilungen auf die 80er Jahre, die Zeit vor der Desintegration der wirtschaftlichen Kooperation der Ostblockstaaten, als nur eine einzige Währung zirkulierte und Konsumgüterknappheit kein Thema war. Neben dem unverändert wiederkehrenden Stöhnen über die Hitze, das fast automatisch Teil jeder Begrüßung ist, treten dann, wenn auch selten offen ausgesprochen, sondern zumeist in Form eines Witzes oder einer Anspielung verpackt, Unmutsäußerungen über die schwierigen Lebensbedingungen hinzu. Seit einigen Wochen ist die Atmosphäre an der Kreuzung 23/L jedoch gespannt. Die in dieser Gegend generell hohe Polizeipräsens wurde verstärkt, Gruppen, die aus beliebigen Gründen den Ordnungskräften missfallen, werden aufgefordert, den Ort zu verlassen, die Staatsmacht versucht informelle Menschenansammlungen weitestgehend zu unterbinden.

 

Deutschland, August 2006 – die Titelseiten der Tagespresse melden die Einlieferung Fidel Castros zu einer Notoperation ins Krankenhaus wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag. Der kubanische Staatschef überträgt die Amtsgeschäfte wie im Artikel 94 der Verfassung des Landes vorgesehen, seinem fünf Jahre jüngeren Bruder und Vize-Präsidenten des Staatsrats Raul Castro. Während die kubanische Regierung bemüht ist, den Eindruck von Normalität zu vermitteln – die Verwendung des Begriffs in Reden von Regierungsvertretern, der Regierungspresse und den nationalen Radioprogrammen nimmt sprunghaft zu – schlagen international die Wellen hoch: Auf den Straßen von Miami feiern große Teile der exilkubanischen Community das Herannahen des Endes der Castro-Ära, US- und zahlreiche europäische Regierungen nutzen die Stunde für mahnende Forderungen an Kuba, eine demokratisch-kapitalistische Transition einzuleiten, Solidaritätsgruppen aus aller Welt senden Grußbotschaften und bekräftigen ihre Treue, die ersten Bilder des langsam genesenden Fidel Castros im Krankenbett füllen die europäischen Zeitungen und die LeitartiklerInnen überschlagen sich in biographischen Abrissen über den Maximo Líder und Spekulationen über die politische Zukunft auf der Insel. Einmal mehr wird Geschichte der großen Männer geschrieben und mit dem Leben Fidels die Bilanz der nachrevolutionären Geschichte Kubas gezogen: Aber kann die zentrale Frage sein, ob die Geschichte den Comandante en Jefe freisprechen wird, wie er es selbst in seiner Verteidigungsrede vor Gericht nach der Niederschlagung des von ihm geleiteten Angriffs auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba 1953 prophezeit hat? Oder muss sie sich, wie in eben dieser gegen die soziale Misere, Unterdrückung und Diskriminierung der Batista- Diktatur in den 1950er gerichteten Rede, nicht vielmehr auf den vielschichtigen sozialen Wandel richten, den die Insel seit den 50er Jahren durchlaufen hat?

 

Zwar kann man die politische Situation Kubas im Sommer 2006 keineswegs als normal bezeichnen: Zum ersten Mal seit 1959 hat Fidel Castro, wenn auch zunächst nur „vorübergehend“ seine offiziellen Funktionen delegiert, was für die 70% der KubanerInnen, die nach der Revolution geboren wurden, bedeutet, erstmalig formell eine andere Person an der Spitze des Staats stehend zu erleben. Das führt in einem politischen System, das hochgradig personalisiert funktioniert, in dem Fidel Castro in der Öffentlichkeit ständig präsent war und zudem große Unsicherheiten über die Entwicklungen nach seinem Tod bestehen, zu Verunsicherung. „Warum zeigt sich Raul nicht“, fragt ein Student der Universität Havanna und zeigt sich der Erklärung des Präsidenten der Volksversammlung Ricardo Alarcón gegenüber uneinsichtig. Dieser gab laut, dass Raul Castro kein Filmstar, sondern der verfassungsmäßige Vertreter seines temporär abwesenden Bruders sei und genau dieser Funktion auch gerecht würde.

Neben den Spekulationen über die ungewisse Zukunft des politischen Systems der Insel bleibt für den überwiegenden Teil der kubanischen Bevölkerung die Bewältigung des Alltags, der halb ironisch- halb sarkastisch oft la lucha, der Kampf genannt wird, weiter die primäre Aufgabe. Eine Studie des psycho-sozialen Forschungszentrums in Havanna schätzt, dass 80% der Bevölkerung von ihrem Lohn nicht leben können und auf Zusatzverdienste angewiesen sind, legale wie illegale. Da ist die 75 jährige Anna, die ihre beiden Zimmer in einem verfallenen Kolonialhaus in Alt-Havanna mit ihrem Sohn, seiner Frau und ihren drei Kindern teilt. Sie verkauft um die schmale Rente aufzubessern, geröstete Erdnüsse für einen Peso pro Tüte an PassantInnen, eine Tätigkeit, die der Staat seit der partiellen Legalisierung privatwirtschaftlicher Tätigkeiten 1993 die euphemistisch „Arbeit auf eigene Rechnung“ heißt, toleriert, jedoch durch die Vergabe von Lizenzen und Erhebung von Steuern sogar für diese KleinstunternehmerInnen in engen Schranken hält. Ihr Tag beginnt, bevor sie die Kinder für die Schule weckt, um sechs Uhr früh und ist angefüllt mit der Beschaffung der Nüsse, der Herstellung der Tüten, dem Säubern, Rösten und Verpacken und schließlich der Verkaufstätigkeit auf der Straße, bei der sie bis zu 10 Stunden draußen verbringt. Vielleicht trifft sie dabei Ernesto, der morgens in einer langen Schlange mit anderen Rentnern vor den Zeitungsbuden wartet, bis die Parteizeitungen Granma und Juventud Rebelde aus den staatlichen Druckereien geliefert werden. Diese kaufen sie für 20 Peso-Cent, um sie als fliegende Händler für einen Peso weiterzuverkaufen. Vielleicht treffen sie sich aber auch abends im Theater, dessen Besuch durch die hohe Subventionierung der Eintrittskarten für breite Bevölkerungsschichten möglich ist – auch wenn das Ballet mittlerweile überwiegend vor Pappkulissen tanzt.

Seine Zeitung verkauft Ernesto zum Beispiel an Pepito, einen knapp 70-jährigen Kettenraucher, der zu Beginn der 50er Jahre aus Spanien nach Kuba einwanderte, um als Einzelhändler sein Glück zu machen. Die Revolution machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Kaum sechs Jahre im Land, wurde er enteignet, entschloss sich aber wegen Frau und Kindern, die er mittlerweile in Havanna hatte, zu bleiben und arbeitete 30 Jahre für eine staatliche Lebensmittelverteilungszentrale. Er gehört zu den wohlhabenderen Personen der Stadt und verfügt über ein Zimmer, das er seit 1996 an Touristen vermietet: Zunächst legal, als die Steuern von der Regierung immer weiter angehoben wurden, um die Preise in die Höhe zu treiben und so der geringen Auslastung der staatlichen Hotels entgegenzuwirken, gab er schließlich seine Lizenz zurück, vermietet unter der Hand und schmiert hie und da die staatlichen Kontrolleure, um Strafen zu entgehen. Unterdessen sitzt er auf der Treppe vor seinem Haus, raucht und flucht auf die Revolution und lässt seinem, in der kubanischen Öffentlichkeit nicht tolerierten, Rassismus freien Lauf. Für ihn stellte die Revolution das Ende seiner Karrierehoffnungen dar, die er als gewaltsamen Einbruch einer Welt des Pöbels in sein an der Lebensführung der US-amerikanischen Mittel- und Oberschicht ausgerichteten Lebensentwurfs wahrnahm. Als Migrant europäischer Herkunft gehörte er zu der vergleichsweise breiten urbanen Mittelschicht der 50er Jahre, die im Laufe der Nationalisierungswellen der Jahre 1959 und 60 einen beträchtlichen Teil ihres produktiven Eigentums, ebenso wie ihre gesellschaftlichen Privilegien weitgehend verlor. Auch wenn sie nicht wie der Großteil der US- amerikanischen AusländerInnen und mit ausländischen Großunternehmen kooperierenden nationalen Bourgeoisie das Land verließ und auch wenn diese Schicht weiterhin über mehr Eigentum verfügte, als der Durchschnitt der kubanischen Bevölkerung, endete mit 1959 die Ära ihrer formellen Privilegien. Und diese beiden Punkte gehören zu den zentralen Dreh- und Angelpunkten, die den Erfolg der Revolution ermöglichten und durch diesen hervorgebracht wurden: Die Überwindung der Abhängigkeit von den USA, den mit diesen kooperierenden Agraroligarchien und der Unterdrückung durch den Diktator Fulgencio Batista, ebenso wie die von stark equitativen Elementen gezeichnete Konsolidierung eines Staatsvolks, der Schaffung einer nationalen Identität. Wird nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Realsozialismus über den Fortbestand des kubanischen spekuliert, wird dabei zumeist vergessen, dass Kuba zwar im Laufe der aus der historischen Situation des Kalten Krieges geborenen Kooperation mit dem Ostblock eine Vielzahl realsozialistischer Charakteristika übernommen hat, der nationale Konsens, soweit man von diesem sprechen kann, sich aber weit mehr auf der Überwindung des neokolonialen Status der 1950er Jahre und der Konsolidierung als Nation gründen, als auf materiellen Plankennziffern. Dem entspricht die Änderung der Verfassung von 1992 in der der Nationalheld José Martí eine herausragende Position eingeräumt bekommt. Zeitgleich begann im ganzen Land sukzessive die Parole „Vaterland oder Tod“ die alte Losung „Sozialismus oder Tod“ zu ersetzen.

Nicht desto trotz hat die Einbindung in den Ostblock das Land nicht nur institutionell, sondern auch ideologisch verändert und zur Etablierung eines Wertesystems beigetragen, dass auch über die politische Orientierung an der kommunistischen Partei PCC hinaus den Alltag der Bevölkerung prägt: Es ist Sonntag, die Massenorganisation „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ (CDR), die in den 50er Jahren gegründet wurden, um konterrevolutionären Umtriebigkeiten in den barrios zu verhindern und nun die Funktion erfüllen, die Menschen auf der Ebene der Viertel durch gegenseitige Kontrolle, aber auch die Übernahme gemeinsamer Aufgaben in das hierarchische Herrschaftssystem einzubinden, rufen auf zur Verschönerung des Wohnblocks. Der überwiegende Teil der BewohnerInnen machen sich mit Harken, Sensen und Besen daran, Gras zu schneiden, Müll zu entfernen und Farbe zu klecksen. Als Yanislaydis Söhne sich weigern, ihren freien Sonntag mit gemeinnütziger Arbeit zu verbringen, hält sie ihnen böse eine Standpauke, dass es die Aufgabe der Gemeinschaft wäre, sich um den Block zu kümmern und sie sich amoralisch verhalten würden, wenn sie daran nicht teilnehmen. Im nächsten Satz vertritt sie im Brustton der Überzeugung, dass sie mit Politik nichts zu tun haben wolle.

Zugleich aber bröckelt die soziale Kohäsion – und das nicht primär aus politischen Gründen: „Es kann nicht sein, dass ich mit meinem abgeschlossenen Medizinstudium weiter bei meiner Mutter wohnen muss und nicht über die Runden komme“, beschwert sich Oswaldo und blickt herausfordernd seinen Freund Emilio an. Beide sind Mitglieder der Jungkommunisten (UJC), beide überlegen für einen Arbeitsaufenthalt als Mediziner oder Sozialarbeiter im Rahmen einer der großen Gruppen junger Fachkräfte, die Kuba derzeit nach Venezuela entsendet, um den dort stattfindenden „bolivarianischen Prozess“ zu unterstützen, das Land für eine Weile zu verlassen. Oswaldo ist Sohn einer hohen Staatsfunktionärin und in Havanna aufgewachsen. Emilio hingegen verbrachte seine Jugend in einem winzigen Dorf in der Provinz Las Tunas, wo er mit seiner Mutter ein Bett in einer Holzhütte teilte, die bis heute keinen Stromanschluss hat. Aufgrund seines Erfolgs während seines Militärdienstes gewährte ihm der Staat ein Stipendium an der Universität Havanna, brachte ihn in einem der Achtbettzimmer des Studentenwohnheims unter und garantierte die täglichen Mahlzeiten: Reis und Bohnen, manchmal ein Stück Ei oder Huhn. Er kam mit 20 Peso und einer Hose in der Hauptstadt an, stellte fest, dass diese bei weitem nicht zum Leben reichten und begann, sich hochzuarbeiten: Nach fünf Jahren Geschichtsstudium schloss er als Bester seines Jahrgangs ab und hat durch eine Mischung aus politischem Opportunismus und dem klaren Ziel, soviel Macht wie möglich zu erhalten, die Position des Vorsitzenden der Studentenvereinigung FEU erreicht. Oswaldo spricht vier Sprachen, diskutiert ebenso eifrig über Max Weber, wie über die Frage, ob man die BushRegierung als faschistisch bezeichnen könne. Doch nach Abschluss seines Studiums muss er, wenn er in Havanna keinen legalen Wohnsitz nachweisen kann, der kaum auf anderem Weg als über Verwandte oder Geld zu erhalten ist, in sein Dorf zurückkehren und dort 13jährige SchülerInnen unterrichten.

Politik? Mayra winkt ab, wippt leicht in ihrem Schaukelstuhl und wird erst wieder lebhafter, als die Nachbarin klingelt und berichtet, nebenan verkaufe jemand Milchpulver. Warum erzählen, wie sie in den 50er Jahren als Hausmädchen für eine reiche Familie tätig war? Sicher, das musste sie danach nie wieder, lebte aber auf engem Raum in einer verkommenen Arbeiterviertel Havannas, immer noch arm, immer noch damit beschäftigt, zu überleben. Und dann, sie wendet die Augen kurz von der Strickanleitung, die sie seit der großen Alphabetisierungskampagne in den 1960er Jahren lesen kann, bezog die Familie in den 80er Jahren diese Wohnung in einem 12-stöckigen Plattenbau, den die Regierung im Osten Havannas nach realsozialistischen Vorbild hatte errichten lassen. Seit dem haben sie drei Zimmer. Dann wendet sie sich wieder ihrer Handarbeit zu.

 

„Wie werde ich leben”, heißt ein Lied des kubanischen Trovadoren Pedro Luis Ferrer und dann, aufmüpfig, „sie sollen mir nicht immer das Gleiche sagen“. So unterschiedlich die soziale Situation und die politischen Positionen der in Kuba lebenden KubanerInnen darstellen, in einem Punkt besteht zwischen fast allen Einigkeit: Die Bilder der auf den Straßen tanzenden Exil-KubanerInnen in Miami haben einen Schock hinterlassen und übereinstimmend hört man von vielen BewohnerInnen Havannas, was auch passieren werde, eines wolle man nicht: Diese Menschen dort – und mit einer vagen Handbewegung weist die junge Frau, die mit einem Mickey Mouse T-Shirt bekleidet an der Küstenpromenade Havannas steht, gen Norden, in Richtung des 90 Meilen entfernt liegenden Floridas – sollten in Kuba nie wieder das Sagen haben.

 

Lotte Arndt, La Havana-Berlin

 

'Aus: Lateinamerikanachrichten, Heft Nr. 387/388'

(Anmerkung: Der Artikel beruht auf Interviews, die die AutorIn im Sommer 2004 in Havanna führte und auf den Berichten der Havanna-Korrespondentin von RFI, Sara Roumette. Ihr sei herzlich gedankt.)

 

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